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Gemeinde Oberderdingen an Amt Derdingen 1622

Schultheiß, Bürgermeister, Gerichts- und Ratsmitglieder von Oberderdingen1 berichten dem Amtmann des Amtes Derdingen Georg Beihel2 über Plünderungen und Zerstörung ihrer Habe an Vieh, Gebäuden und Hausrat durch verbündete Soldaten des Hauptmanns Schaffeletzki3. Beklagt wird hierbei nicht nur, dass man mit brutaler, erpresserischer und schänderischer Gewalt gegen die wehrlose Dorfbevölkerung vorgegangen sei, sondern auch, dass die Geschädigten in einem Ausmaß ruiniert worden seien, dass sie nichts mehr „zu beißen und zu brechen“ hätten. Dieses Schreiben fügte das Amt Derdingen 1624 seinem Bericht an das Kloster Herrenalb abschriftlich als „Beilage B“ bei.

Oberderdingen, im Jahr 1622 (Abschrift)

B.
Ehrnvosster vorgeachter insonders günstig gebietender
Herr Ambtman. Derselb hat zweifelsloß sich noch
unvergeßen gnädig zu erinner n, wie vihlfelltig wir
innerhalb fünf Wochen hero sowohl communicatim
alß privatim4 Ambts weegen mit Umbstanden5 geklagt,
daß Ritmaisters Schavelitzki Cavalleria vondt solche
gantze Zeit uber mehr nicht alß 2 ainige6 Tag
weniger inn allhiesigem, vorhin gar verarmbten
Fleckhen mit manchen gemeinen Mannß hohen emp-
findtlichen Schaden unndt entlichen Verderben in velligem7
Quartier gehabte gantze Cornet-Reitter8, einsthails
sowohl vom Adel alß under den gemeinen Knechten,
besonders aber mehrerthails ihre bey sich gehabte
Jungen, denen sie nichts gewehrt, mehr dann ybell bey
unß haußgehallten unndt nicht mehr zu ersettigen
gewesen. Weill nun der Herr Ambtman solche unsere
vihlfelltige Clagen inn Schrifften zu verfaßen unnd ihme
zuezuestellen, selbige uf deßhalb von etcetera unsers gnädigen Fürst-
en unndt Herrn General-Commiscario erthailt, Ußschreiben
an gehörige Ohrt der Gebür nach haben zue berichten
unß diser Tagen anbefohlen, alß geben dem Herrn Ambtman
wir hiermit ferners mit Grundt der Worhait9 noch-
mahlen dinstlich zu vernehmen, daz besagte Reuterey
mit Anstellung unndt Halltung der Gastereyen
den Leuthen großen untraglichen Uncossten verursacht
unndt ein solches manchmahlen von morgens ann
den gantzen Tag hindurch biß nach Miternacht mit
großem Muetwillen unndt yberflüßigem Zehren10
getriben, darbey sich Jederman zuegesellt unnd
Weins die Vollin11 haben mueßen. Inmitelst etlicher
Ohrten die Fenster außgeschlagen unndt offen einge-
worffen, besondern einem in sein aigen Hauß daß
Täfer inn der Stuben item12 die Thüren unndt unnd
dergleichen Schreinwerckh zerhawen, den Eisenoffen
gar abgebrochen unndt verkaufft, thails die Leuth
mit bloßen Wehren13 geengstigt unndt ußer ihren
aignen Hausern vertriben in die Scheuren, ja in einer
Stuben, darin ein todtkrankhes Kindt gelegen, uber
Beschehen abmahnen unndt bitten14, under den Tisch abgeschoßen
unndt allerhanndt Muetwillen geuebt. Da beneben,
daß vihlfelltigen Schaadens unndt Schmehens gegen allten
70-jehrigen Leuthen, auch grewlichen Gotslästerns,
kein Uffhörens gewesen, etliche ußer Forcht unnd Angst
sich zum offtermahlen in ihren aignen Heußern nicht-
mehr dörffen sohen laßen, haben denn Leuthen uf Leib
unndt Leben, besonders zue ihrem Abzug, böse Letzinen15
zue hinderlaßen, offentlichen getrowet. Ist von vihlen
schier nichts mehr, weder draußen im Feldt noch
daheimbden in den Scheuren, recht sicher gewesen, dann
deren vihl16, so alle Schloß unndt Gemach offnen könden.
Dahero schier niemandts vor ihnen ins Feldt gehen
dörffen, bestallt dann selbiges allberait dis
Tags noch halb wuesst unndt ungebawt draußen
ligen thuet. Dorauß folgt, daz inskünfftig unser
gnädige Herrschafft etcetera die schuldige Hoffgülltten17 unnd andere
Schuldigkaiten wir nicht mehr werden raichen unnd lifern
könden. Haben nicht allein inn verschiner Dinkhel-Ehrnd18
sowohl Zehendt19 alß andere Garben uff dem Feldt
unndt daheimben in der Scheuren angriffen unndt
ußgetroschen, sondern auch, alß man newlichst
denn Hobern20 zue schneiden angefangen, denselbenn
manchmahlen uf einem Ackher gantz ufgebunden
unndt ihren Roßen zu verfuetern heimgetragen;
darzue nichtsdesstoweniger thails uf die Casstenn
gebrochen unndt Habern dorab entwehrt, oder die
Leuth selbigen vihlmahlen uber ihr ordenliches21 Fueter
zuvor schaffen unndt herbeyzubringen genötigt. Haben
einsthails die Leut gezwungen, daz sie mit ihren aignen
Roßen nacher Riekingen22 unndt Flechingen23 fahren, der-
enden in beeden Schloß-Kellern Wein uffladen unnd hie-
her nacher Derdingen vergebens24 füehren. Auch thails
Leuth wider ihren Willen solchen gebeuteten Wein, so sie
die Reuter volgendts zum Thails selbsten inn ihren
Quartieren ußgetrunkhen, ihnen bezahlen unndt daz Gellt
darfür erstatten mueßen. Da dann Alt Jerg
Bertschen allhie, so also gezwungenerweiß alldahin
nacher Wein fahren mießen, sein Roß sambt dem
Karch unndt allein zuegehörigen Geschürr von den
Bayerischen genommen worden, deßen alles er noch
diß Tags noch ohnbezahlt in Mangell stohet25, allso auch
seyen im Fleckhen allhie unndt freyen Feldt weder
Kälber, Schaf oder Schwein sicher gewesen. Habens bey
Tag unndt Nacht ußer den Stellen26 unndt im Feldt,
besonders gegen ihren Abzug27, heimlich unnd offent-
lich hinweegzuenehmen unndt zue schlachten angefangen.
Die Jungen daz noch ohnausgewaschene Kraut in Görten
außgestochen, daz unzeitige Obs abgerißen unndt sambt
Rueben unndt Erbsen hauffenweiß verschlenkt28 unndt
verderbt. Jah, ihrer vier, darunder im Underndorf
zween Fuohrman so im Landt daheimbden sein sollen,
gezwungen, daz nicht allein sie beede ihnen an Gelltt
20 [Gulden] Kaution; sodann der Raw29, so selbigen etlich
Wein kaufflichen zuegestellt, ihnen Reutern uber den-
jenigen, so sie und andere vihl, so sich hauffenweiß zue-
geschlagen, inmitelst, so lang die Fuohrleuth ufgeladen,
ußgetrunkhen, noch 3 kleiner Väßlin uff die 4
Imi30 füllen unndt vergebens hergeben mueßen. Son-
dern sie haben auch volgendts dem einen Fuohrman
noch erst yber diß alleß ain gantzen Vierling31
Wein, so neben dem Wagen gelegen noch nicht ufgelad
gewesen unndt sie dem Aimer32 nach zue 9 Reichs-
thaler verkaufft, mit Gewallt hinweeg genommen.
Den Bawren deßelben Weins ungestimb33 mit großen
Betrowungen gezwungen, daz er ihnen selbigen mit
seinem aignen Roß erst selbssten ins Oberdorff
mueßen fuehren laßen, dem auch hierfür uber
fihlfelltig beschehen Erclagen weeder Heller noch
Pfenning worden, sonder die Reuter haben selbigen
Thails inn Väßlin verfüllt, daheimbden in ihren
Quartieren erst ußgetrunken unndt die Bawren
thails gezwungen, daz sie ihnen daz Gellt hiefür bezahlen
unndt dargeben mueßen. In Summa nicht alles
ist zu erhohlen, dann allein diese Reuterey unnß
von Derdingen solche kurtze Zeit über uff die 10
oder 12 tausendt34 Guldin Wehrt gestannden,
welches alles der Herr Ambtman von denjenigen
Personen, so ihme ohne Zweifel mehrernthails wohl
wißendt, unndt weill sie hierumb den grössten Schadt
erlitten, auch thails gar geengstigt gewesen, vill zu
Clag kommen, mit mehrerm nach lengs35 zu erfahren.
Dann der Fleckh Derdingen allberait so verderbt,
daß inßgemein wihr miteinander schier nichts mehr
weder zue beißen noch zue brechen, seitenmal36 weegen
großer Menge deß Volckhs bißhero ußer den Mühlinen
(so vihler Ohrten verderbt) lange Zeit kein Mehl
zu bringen. Den Wein, so ihrer vihl bißhero, thails
solang sie Reuter gehallten, bey der Maaß zue 6 Batzen37
unndt Flaisch daz Pfundt daheimbden unnd ußerthalb
zue 3 Batzen unndt 15 Kreuzer erkauffen, und inskünftig
mit Ufnehmung vihler Güllten38 schwerlich abzahlen
mueßen nicht mehr zue bekommen. Der Vorraht
an allerhand Victualien39, von Schmaltz, Speckh, Ayern40
unndt dergleichen, hat ein Endt, von Huener, Gansen
unndt andern kleinen Vich ist nichts mehr da. Daß
Hew, darmit der gemeine Mann uf künfftigen
Winter sein Kuelin41 zu Erhalltung sich mit Weib
unndt Kinder hinaußzuebringen42 vermeint, ist bey
vihlen, sambt dem Haber n, schon allberait ußganngen
unndt verfuetert. Unnd wann solche Reuter noch
lenger allhie verharrt sein sollten, haben sie sich
schon gelussten43 unndt offentlich verlautten laßen,
unsere Kuehe (darvon wir inskünfftig unsere
besste Nahrung) auch anzugreiffen unnd mit Ge-
wallt hinweegzuenehmen. Deßen alles aber ohngeachtet,
hat endtlich der Rittmaisster unndt in seinem Abweesen
deßen Leutenambt44 unß wider Vermögen45 zum drit-
ten Mal mit Betrowungen zuegemuetet, an inmit-
telst uff den Herrschafft-Cassten ufgewendten Habern daz
halbe Thail zue bezahlen, dem wir zwar letstlich, allß
kein Bitten mehr helffen wöllen, cum contitione46  —  400 [Gulden]
verwilligt, damit sie nuhr ußer dem Fleckhen
kommen unndt zur letzin47 nicht ein ärgern Schaden
zuefuegen möchten. Weill wir aber, dem Herrn
Ambtman wohl wißendt, hierzue gezwungen, der
Fleckh vorhin gar schlechten Einkommens und schon
vihl Jahr hero mit Durchzügen unndt in andere
Weeg48 großen Schaden erlitten unndt verderbt worden,
alß stehen wir der getrossten Hoffnung, solches zue
hallten nicht schuldig sein, sonder vihlmehr unser
gnediger Herr unndt Landtsfürsst sie sambtlichen
zue Ußbezahlung alleß deßjenigen, waß sie wider
die Gebür muetwillig angewendet unndt verderbt,
anhallten unndt ihnen ein solches an ihrem Soldt ab-
kürtzin zue laßen, gnedig gemeint sein werde, dar-
umben Ihro Fürstlichen Gnaden solchen Verlauff underthönig
zue berichten. Denn Herrn Ambtman wir hiemit
inn Nahmen einer gantzen Gemeind dinstlichs Fleiß
ersuocht49 unnd gebetten haben wollen
etcetera

Schulthaiß, Burgermaisster,
Gericht unnd Rath zue
Oberderdingen.

etcetera. Herrn Ambtman zue
Derdingen, Georg Beiheln,
uberantwurtet.50


1   Oberderdingen KA (bis 1835: Ober- und Unterderdingen).

2 Beyhel, Hans Georg (verst. 1627), von 1616–1627 Amtmann zu Derdingen (Pfeilsticker, Walther: Neues Württembergisches Dienerbuch. Band 2, Stuttgart 1963, § 3379).

3 Mitglied der württembergischen Beamten- und Offiziersfamilie Schaffalitzky von Muckadell.

4 Bedeutung: „sowohl communicatim alß privatim“ = sowohl öffentlich (gemeindespezifisch) als auch im privaten Bereich.

5 Bedeutung: „mit Umbstanden“ = in aller Ausführlichkeit, umfassend, genau.

6 Bedeutung: „ainige“ = vereinigte; hier: aufeinander folgende.

7 Bedeutung: „velligem“ = baufälligem.

8 Bedeutung: „Cornet-Reitter“ = Fähnriche/Standartenträger zu Pferd.

9 Bedeutung: „Worhait“ = Wahrheit.

10 Bedeutung: „yberflüßigem Zehren“ = übermäßigem Zechen und Schlemmen.

11 Bedeutung: „die Vollin“ = in Fülle, massenhaft.

12 Lat. = sowie, wie auch, ebenso.

13 Bedeutung: „mit bloßen Wehren“ = mit gezückten Waffen.

14 Bedeutung: „uber Beschehen abmahnen unndt bitten“ = ungeachtet des vorgebrachten Ermahnens und Bittens.

15 Bedeutung: „böse Letzinen“ = böse Schäden, schlimmes Unheil.

16 Bedeutung:“dann deren vihl“ = denn es gab derer viele [die in der Lage waren, alle Schlösser und Gemächer zu öffnen].

17 Bedeutung: „Hofgüllten“ = Ertrags- bzw. Steuerabgaben aus Landwirtschaftseinkünften.

18 Bedeutung: „inn verschiner Dinkhel-Ehrnd“ = im Hinblick auf die Dinkel-Ernte des vergangenen Jahres.

19 Bedeutung: „Zehendt“ = der „Zehnte“ (Steuerabgabe, zehn Prozent des Ertrages).

20 Bedeutung: „denn Hobern“ = den Hafer.

21 Bedeutung: „ordentlich“ = rechtmäßig; der festgesetzten Ordnung, Regel und Vorschrift entsprechend; der Üblichkeit gemäß.

22 Rinklingen, Stadt Bretten KA.

23 Flehingen, Gde. Oberderdingen KA.

24 Bedeutung: „vergebens“ = ohne Vergeltung, ohne Bezahlung.

25 Bedeutung: „ noch ohnbezahlt in Mangell stohet“ = noch unbezahlt ist; wörtl.: noch unbezahlt als Schaden zu verbuchen ist.

26 Bedeutung: „ußer den Stellen“ = aus den Ställen heraus.

27 Bedeutung: „gegen ihren Abzug“ = im Hinblick auf ihren Abmarsch.

28 Bedeutung: „verschlenkt“ = in schnellem Schwunge abschüttelnd zugrunde gerichtet.

29 Bedeutung: „der Raw“ = der Raub, das Geraubte.

30 Bedeutung: „Imi“ = altes württembergisches Volumenmaß; 1 Imi = 18,37 Liter.

31 Bedeutung: „Vierling“ = regional unterschiedlich berechnetes Hohlmaß für Getreide und dann auch für Flüssigkeiten. In Württemberg war ein Vierling der vierte Teil eines sog. „Simri“ und entsprach noch im 19. Jahrhundert rund 11 Litern; in Baden war ein Vierling der vierte Teil eines sog. „Sesters“, umfasste also knapp 4 Liter.

32 Bedeutung: „Aimer“ = Eimer; Volumenmaß (nicht zu verwechseln mit dem Gefäß). In Württemberg entsprach 1 Eimer ca. 267 bis 307 Litern.

33 Bedeutung: „ungestimb“ = ungestüm, wild, grob.

34 Randvermerk im Original links von dieser Zeile: „12 000 fl.“

35 Bedeutung: „nach lengs“ = nach Langem.

36 Bedeutung: „seitenmal/sintemal“ = da, weil, zumal.

37 Bedeutung: „Batzen“ = historische Münze; Umrechnung: 1 Gulden = 60 Kreutzer = 15 Batzen.

38 Bedeutung: „Ufnehmung vihler Güllten“ = Aufnahme großer Schulden (in Form von Geld und/oder Naturalien).

39 Bedeutung: „Victualien“ = Warenbegriff für Lebensmittel aller Art.

40 Bedeutung: „Ayern“ = Eiern.

41 Bedeutung: „sein Kuelin“ = seine Kühe.

42 Bedeutung: „hinaußzuebringen“ = durchzufüttern, zu versorgen.

43 Bedeutung: „gelussten“ = ein Verlangen, eine Begierde nach etwas haben (wörtl.: gelüsten).

44 Bedeutung: „Leutenambt“ = Leutnant.

45 Bedeutung: „wider Vermögen“ = ungeachtet unseres Unvermögens, ungeachtet unserer Armut.

46 Lat. = unter der Bedingung.

47 Bedeutung: „zur letzin“ = eigtl.: zum Bösen/Üblen; es könnte in diesem Zusammenhang aber auch einfach nur „zuletzt, letztlich“ bedeuten.

48 Bedeutung: „in andere Weeg“ = auf andere Weise.

49 Bedeutung: „dinstlichs Fleiß ersuocht“ = diensteifrigst ersucht.

50 Bedeutung: „uberantwurtet“ = (als Antwort) übermittelt.

Quelle Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 29 Bü 37
Die Wiedergabe der Transkription folgt der Originalquelle buchstaben- und zeilengetreu.